„Diversifikation hilft immer“ – Risiken für Lieferketten und Lagerbestände minimieren 

Interview | April 2022

Ausfallende Lieferanten, steigende Energiekosten, knappe Rohstoffe und verschärfte Sanktionen: Der Ukrainekrieg stellt die deutsche Wirtschaft auf eine harte Probe – und stellt eine weitere Belastung für die ohnehin schon angespannten Lieferketten dar.

Philip Beblo, Global Practice Group Leader für die Sachversicherung der Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS), erklärt, wie Unternehmen ihre Supply Chain in diesem schwierigen Umfeld aufstellen können und wie Lagerbestände bestmöglichst zu schützen sind.

Philip Beblo: Betriebs- und Lieferkettenunterbrechungen sind laut dem Allianz Risk Barometer ohnehin schon das größte Geschäftsrisiko in Deutschland. Schon im letzten Jahr waren die Supply Chains extrem angespannt – durch Nachwehen der Corona-Lockdowns, Engpässe in der Logistik und Schiffsfracht oder den durch Chipmangel. Jetzt kommt durch den Krieg in der Ukraine eine weitere Krise obendrauf. Wenn mit der Ukraine eine starke Industrienation – immerhin die 21. größte Volkswirtschaft der Welt – plötzlich wegfällt und dazu ein Land wie Russland sanktioniert wird, sind die Auswirkungen natürlich mannigfaltig. Dies gilt vor allem für die deutsche Automobilindustrie. Seit 1998 haben sich insgesamt 22 ausländische Automobilzulieferer etwa 600 Millionen Dollar in den Aufbau von 38 Produktionsstandorten in der Ukraine investiert. An diesen Standorten haben vor der Invasion rund 60.000 Menschen gearbeitet.
Philip Beblo: Genau, auch wenn manche Lieferanten vor allem in der Westukraine wieder die Produktion aufgenommen haben. Den mit Abstand bedeutendsten Teil der Zulieferer bilden die Hersteller von Kabelbäumen sowie damit einhergehend konfektionierte Kabel, Stecker und Elektronikkomponenten. Fast jeder der globalen Top 10 Autohersteller von Fahrzeugkabelbäumen hat zumindest einen Montagestandort in der Ukraine, da das Land ein vergleichsweise niedriges Lohnniveau bei gleichzeitiger Nähe zu Zuliefer- und Fahrzeugproduktionsstandorten in Polen, Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland bietet. Mehrere Autobauer haben mittlerweile Kurzarbeit angekündigt, weil in der Ukraine gefertigte Kabel- und Bordnetzsysteme unregelmäßig geliefert wurden. Experten schätzen in einem Worst-Case-Szenario das Risiko eines Produktionsausfalls von bis zu 650.000 Fahrzeugen in Europa. 
Philip Beblo: Es ist sogar noch schlimmer. Für die Automobilindustrie in Europa ist die Situation kritisch. Zu den ersten Montageumfängen gehört der Kabelsatz beziehungsweise Kabelbaum, eine der aufwendigsten und teuersten Komponenten. Fehlen Chips, kann ein Auto in der Regel trotzdem komplett produziert und vor der Auslieferung mit dem fehlenden Chip bestückt werden. Der Kabelbaum gehört dagegen zu den ersten Montageumfängen. In den Kabelsätzen moderner PKWs werden einige Kilometer an Kabeln und Leitungen verbaut, einige tausend Kontaktstellen sind verbunden. Ohne dieses Bordnetz lässt sich kein Fahrzeug fertigen. Fehlen Kabelbäume, stehen die Fabrikbänder – wie aktuell bei BMW, Volkswagen und Porsche – still.
Philip Beblo: Der Chip-Mangel hat die deutsche Autoindustrie im vergangenen Jahr stark getroffen. Der Krieg in der Ukraine  sowie die andauernde Pandemie wird diesen Mangel an Halbleitern weiter verschärfen. Insbesondere das Fehlen des Edelgas Neon wird sich schnell bemerkbar machen. Das Gas wird benötigt, wenn Laser feinste Strukturen auf die Chip-Oberfläche brennen. Knapp die Hälfte der weltweiten Produktion des Gases stammen laut Schätzungen von den ukrainischen Anbietern Ingas und Cryoin. Die beiden Unternehmen haben ihre Tätigkeit nach Beginn der russischen Offensive beendet. Ingas hat seinen Sitz in der besonders umkämpften Stadt Mariupol.
Philip Beblo: In der Regel nicht. Betriebsunterbrechungen sind in der Regel innerhalb von Sachversicherungen dann versichert, wenn sie durch einen Sachschaden entstanden sind, also ein Feuer, einen Sturm, ein Wasserleck zu dem Ausfall geführt hat. Schäden infolge von Kriegshandlungen sind in nahezu allen Versicherungspolicen ausgeschlossen, weil das Ausmaß der Zerstörung – und dies sehen wir ja gerade sehr dramatisch in der Ukraine – schlichtweg die Möglichkeiten der privaten Versicherungswirtschaft überfordern würde. Es gibt im Markt Spezialversicherungen, die Schäden in Folge verschiedener Formen politischer Gewalt – vom Aufstand oder Bürgerkrieg bis hin zu Krieg – decken. Einige Produktions- oder Handelsunternehmen haben womöglich einen solchen speziellen Schutz für ihr Geschäft in der Ukraine. Ob unter diesen Deckungen Versicherungsleistungen geltend gemacht werden können, ist jedoch immer im Einzelfall zu prüfen.
Philip Beblo: Die Auswirkungen sind mannigfaltig und reichen von dem Ausfall von Lieferanten oder eigenen Produktionsstätten in der Ukraine über die Anwendung der Sanktionen bis zu deutlich höheren Preisen für Energie und Rohstoffe. So ist beispielsweise die Baubranche stark von Materialengpässe und steigende Kosten vor allem für Diesel betroffen. Die Preise für Stahl sind aufgrund der Sanktionen der EU gegen Russland stark gestiegen. Zudem fallen Lieferungen aus der Ukraine aus. Neben Stahlprodukten werden unter anderem auch erdölbasierte Baustoffe, sogenannter Bitumen, die unter anderem im Straßenbau und zu Abdichtungszwecken eingesetzt werden, teurer. Auch Kunststoffrohre, die aus Erdöl hergestellt werden, sind betroffen. Zusammengenommen sind die Ausfälle für die Baubranche erheblich: Im vergangenen Jahr lag der Anteil der Länder Russland, Ukraine und Belarus bei EU-Importen von sogenannten Langerzeugnissen, zu denen der auf dem Bau benötigte Betonstahl gehört, nach Angaben der Händler bei 40 Prozent. Laut dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie bezieht jedes dritte Bauunternehmen Baumaterial aus Russland oder der Ukraine.
Philip Beblo: Laut einer aktuellen Studie von Clarksons Research sind Störungen der globalen Logistik weiterhin weit verbreitet. Der Ukraine-Konflikt und neue Covid-19-Sperrungen in China hätten zu weiteren erhöhten Verspätungen im globalen Seeverkehrssystem beigetragen. Die Überlastung von Häfen liegt weltweit über dem Niveau des letzten Jahres. Zu den Hotspots für die Container-Schifffahrt zählen die USA, China und Nordeuropa. Clarksons geht davon aus, dass es noch einige Zeit dauern wird bis sich die Situation verbessern wird.
Philip Beblo: Die Empfehlung kann nur lauten, sein Lieferanten-Netzwerk so breit wie möglich aufzustellen und noch stärker in das Business Continuity Management zu investieren, um vorbeugend gegen Ausfälle gewappnet zu sein. Viele Unternehmen sind hier bereits aktiv: Im Allianz Risk Barometers 2022 hatten die Befragten die Verbesserung des Business Continuity Management als die wichtigste Maßnahme identifiziert, um Lieferketten widerstandsfähiger gegen Störfälle zu machen. Als weitere Maßnahmen folgen die Entwicklung alternativer und zusätzlicher Lieferantenverbindungen, Investitionen in digitale Lieferketten, Intensivierung der Lieferantenauswahl, und wo möglich das gezielte Anlegen und Aufstocken von Lagerbeständen für die Produktion und Lieferung. 
Philip Beblo: Diversifikation hilft immer. Die Empfehlung kann nur lauten, vorausschauend zu denken und sein Lieferanten-Netzwerk so breit wie möglich aufzustellen. Das frühere Prinzip der Just-in-Time-Lieferung funktioniert in einer Welt mit immer größeren und komplexeren Unterbrechungs- und Störszenarien nicht mehr. Unternehmen müssen sich deshalb langfristig und vorausschauend überlegen, wie sich das Geschäft, der Markt, die Kunden und Lieferanten unter bestimmten Voraussetzungen verändern könnte. An einer Szenario-basierten Business-Continuity Planung, die die eigene Aufstellung und die Belastbarkeit von Lieferketten unter verschiedenen Annahmen kritisch hinterfragt, geht kein Weg vorbei.
Philip Beblo: Lagerbestände sind in der Krise doppelt so wichtig. Wer vorgesorgt hat und wichtige Rohstoffe wie zum Beispiel Nickel und Palladium vorhält, kann in der aktuellen Situation entscheidende Wettbewerbsvorteile haben. Unsere große Sorge als Versicherer ist jedoch, dass ein voll bestücktes Lager etwa durch ein Feuer oder einen Leitungswasseraustritt zu Schaden kommen könnten. Dadurch würde dann durch die hohe Wertekonzentration nicht nur ein hoher Sachschaden entstehen. Es käme womöglich auch zu einer langfristigen Betriebsstörung oder Produktionsausfall. Denn in vielen Fällen wäre ein betroffenes Unternehmen überhaupt nicht mehr in der Lage, auf dem Weltmarkt nachzuordern und kurzfristig Ersatz für die vernichteten Rohstoffe oder Bauteile zu erhalten. Massive Betriebsausfälle wären die Folge.
Philip Beblo: Die Empfehlung ist so schlicht wie effektiv: Passt auf das auf, was ihr habt! Erhöht die Sicherheitsvorkehrungen und Kontrollen. Fehler passieren täglich und meistens unerwartet. Manche sind klein und unbedeutend, andere sind fatal und folgenschwer. Zwar sind die meisten Unternehmen heute umfangreich gegen die Folgen eines Sturmschadens, einer Überschwemmung oder eines technischen Fehlers abgesichert. Aber es ist immer besser einen Schaden zu vermeiden, umso mehr, wenn die finanziellen Verluste ein Unternehmen in eine tiefe Krise stürzen könnten.
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