"Ersatz kostet mehr, Ersatz dauert länger" - Wie sich die Inflation auf die Schadensregulierung auswirkt

Interview | Juli 2022
Thomas Sepp
Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) Chief Claims Officer Thomas Sepp beantwortet die drängenden Fragen, wie sich die Inflation auf die Schadensregulierung auswirkt und warum die Unterbewertung von Vermögenswerten sowohl für Versicherer als auch für Versicherungsnehmer ein zentrales Anliegen ist.

Thomas Sepp: Schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine war die Inflation durch höhere Rohstoffpreise, Unterbrechungen der Versorgungskette und hohe Energiepreise angeheizt worden. Der Krieg in der Ukraine verursachte weitere Preisschocks für Rohstoffe, Energie und Lebensmittel. Als Unternehmensversicherer finden wir mehrere spezifische Inflationstendenzen besonders alarmierend, und wir beobachten genau, wie sich die Preisindizes für Energie, Rohstoffe und Baukosten entwickeln, da diese unmittelbare Auswirkungen auf die Unternehmen und auf potenzielle Schäden haben.

Die Reparatur oder der Wiederaufbau von beschädigten Gebäuden oder Anlagen ist jetzt viel teurer. In vielen Ländern steigen die Baukosten aufgrund höherer Energie- und Rohstoffpreise sprunghaft an. Die Kosten für Zement, Holz und Stahl sind drastisch gestiegen; Stahl ist beispielsweise fast 50 % teurer als noch vor einem Jahr. Im Durchschnitt liegt die Inflation im Baugewerbe in den USA, dem Vereinigten Königreich und Deutschland zwischen 11 % und 25 %.

Außerdem sind die Materialien nicht nur deutlich teurer, sondern aufgrund von Engpässen in der Logistik, der Schifffahrt und in den Lieferketten oft einfach nicht mehr oder zumindest nicht zügig verfügbar. Im Mai dieses Jahres lagen etwa 20 % der weltweit aktiven Containerschiffe vor überlasteten Häfen. Viele davon befanden sich in China, unter anderem in Schanghai, wo es aufgrund von Covid-Schließungen zu deutlich längeren Umschlagzeiten kam. Die durchschnittliche Zeit für das Entladen von Containern hat sich von zwei Tagen im Jahr 2019 auf sieben Tage erhöht.

Die logistische Situation ist sowohl an Land als auch auf See eine Herausforderung. In vielen Ländern können entladene Container nicht effizient befördert werden, weil es an Lkw-Fahrern mangelt. Die American Trucking Association ( ATA) schätzt, dass in den USA 80.000 Fahrer fehlen. Im Vereinigten Königreich übertraf die Zahl der offenen Stellen im ersten Quartal 2022 zum ersten Mal in der Geschichte die Zahl der Arbeitslosen. Die angespannte Lage auf den Arbeitsmärkten führt ebenfalls zu Preissteigerungen und Engpässen, die sich in höheren Schadenskosten niederschlagen. Sowohl qualifizierte als auch ungelernte Arbeitskräfte sind knapp, da viele den Beruf gewechselt haben oder in den Vorruhestand gegangen sind, gerade als die Nachfrage nach der Pandemie stark anstieg.

Thomas Sepp: Die Inflationsentwicklung treibt die durchschnittliche Schadenshöhe nach oben[DA(1] , die Schäden werden also teurer. Vor allem Sach- und Bauversicherungsschäden sind einer höheren Inflation ausgesetzt. Schon vor dem Ukraine-Krieg gab es bei Sach- und Bauschäden in Nordamerika ab Ende 2021 einen inflationsbedingten Anstieg der Schadenkosten im oberen einstelligen Bereich.

Wiederaufbauten und Reparaturen sind mit Material- und Arbeitskosten verbunden, während Materialengpässe und längere Lieferzeiten eine Betriebsunterbrechung verlängern und die Kosten in die Höhe treiben.

Stellen Sie sich ein Feuer in einem Lagerhaus vor: Die Vorräte wurden nach dem Schock der ersten Pandemiewelle wieder aufgefüllt und sind jetzt voller und darüber hinaus sind einige Vorräte wesentlich mehr wert als noch vor einem Jahr, z. B. Holz, Stahl, Baumaterialien auf Erdölbasis, bestimmte Gase und Rohstoffe oder Computerchips. Einige Materialien können sogar kurzfristig nicht beschafft werden. Im schlimmsten Fall, zum Beispiel bei einem Lagerbrand, kostet der Ersatz mehr, und er dauert länger. Daher sind sowohl der Sachschaden als auch der Betriebsunterbrechungsschaden wahrscheinlich wesentlich höher. 

Die Inflation ist auch ein Problem bei Haftpflichtansprüchen, wie z.B. bei der Haftung von Geschäftsführern und leitenden Angestellten, der Berufshaftpflicht und der allgemeinen Haftung, die in den USA bereits steigende Verteidigungskosten und eine "soziale Inflation" zu verzeichnen haben, die durch höhere Geschworenenurteile bei Personenschäden und eine veränderte gesellschaftliche Einstellung bedingt ist. Darüber hinaus beginnen auch die Kosten für professionelle Dienstleistungen, wie Anwaltshonorare zu steigen. Die Inflationsrate für juristische Dienstleistungen in den USA lag im Jahr 2022 bei 4%. Höhere Gehälter und Stundensätze von Anwälten könnten die Verteidigungskosten ebenfalls weiter in die Höhe treiben.

Letztlich kann die Inflation die Schadenshöhe also von mehreren Seiten unter Druck setzen. Die Folgen eines solch starken Inflationsanstiegs werden kurz- bis mittelfristig auch in den meisten Sparten der Versicherungswirtschaft zu spüren sein.

Thomas Sepp: Die Inflation hat in einigen Ländern ein Niveau erreicht, das seit drei oder vier Jahrzehnten nicht mehr erreicht wurde, und es ist nicht zu erwarten, dass sie sich in den kommenden Monaten deutlich abschwächen wird. Die Ermittlung und Aktualisierung der Versicherungswerte ist daher ein dringendes Anliegen für alle; Versicherer, Makler und die Versicherten.

Es ist wichtig, dass Unternehmen den Wert von Vermögenswerten sowie die Auswirkungen auf die Kosten für Wiederbeschaffung oder Betriebsunterbrechung regelmäßig überprüfen und anpassen, um sicherzustellen, dass sie nach einem Schaden vollständig entschädigt werden.

Auf dem Versicherungsmarkt gab es bereits eine Reihe von Schadensfällen, bei denen eine erhebliche Lücke zwischen dem vom Versicherten angegebenen Wert und dem tatsächlichen Wiederbeschaffungswert entstand. Bei einem Schadensfall für eine gewerbliche Immobilie, die bei den Waldbränden in Colorado 2021 zerstört wurde, war der Wiederbeschaffungswert beispielsweise fast doppelt so hoch wie der angegebene Wert, was auf eine Kombination aus Inflation, Nachfragewelle und Unterversicherung zurückzuführen ist.

Daher ist die Genauigkeit und Aktualität der von den Unternehmen beim Abschluss einer Versicherung vorgelegten Bewertungen – der so genannte deklarierte Wert – von entscheidender Bedeutung. In einem von hoher Inflation geprägten Umfeld und angesichts der zunehmenden Komplexität von Großschäden besteht die Gefahr, dass die Versicherer zu niedrige Preise ansetzen, wenn sie sich auf angegebene Werte verlassen, die die Wiederherstellungskosten nicht wirklich widerspiegeln.

Thomas Sepp: Viele unserer Kunden arbeiten mit spezialisierten Gutachterfirmen zusammen, um den Wert ihrer Immobilien zu berechnen und die spezifischen Versicherungswerte zu ermitteln. Baupreisindizes sind in allen Sektoren relevant, aber darüber hinaus muss ein Unternehmen die richtigen Indizes auswählen – zum Beispiel für Energie, Rohstoffe, Erzeugerpreise, Waren oder Arbeit – je nachdem, was für einen bestimmten Sektor relevant ist.

Die Unternehmen müssen auch regionale Unterschiede berücksichtigen, da die Inflation von Land zu Land verschieden ist. Selbst innerhalb eines Landes gibt es Unterschiede, da einige Branchen von der Inflation stärker betroffen sind als andere. Ein Maschinenbau- oder Chemieunternehmen, das stark auf Öl und Gas angewiesen ist, wird anders betroffen sein als ein Finanzdienstleister. Die Unternehmen müssen auch berücksichtigen, welche Rohstoffe sie beziehen und lagern, und diese Werte berechnen.

Thomas Sepp: Wir müssen in der Erneuerungsphase intensiv mit Kunden und Maklern zusammenarbeiten, um das Bewusstsein und die Bereitschaft für die Aktualisierung der Vermögenswerte zu stärken. Unsere Underwriter arbeiten eng mit unseren Kunden zusammen und versuchen, ein klares Verständnis der Bewertungsmethodik eines Kunden zu erlangen. Es wird erwartet, dass die Werte aufgrund der Inflation steigen, aber wenn die Werte sinken, muss es dafür plausible Gründe geben – wie das Ausscheiden aus einem Markt oder die Schließung eines Standorts.

Im Versicherungsmarkt wird auch darüber diskutiert, ob spezielle Klauseln, die das Risiko einer Unterbewertung berücksichtigen, wieder in die Versicherungsverträge aufgenommen werden sollten, wenn eine Aktualisierung der Vermögenswerte ausbleibt.

Natürlich müssen wir auch unsere eigenen Inflationsrisiken im Underwriting in den Griff bekommen. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass wir steigende Schadenkosten in unserer Underwriting-Praxis einkalkulieren müssen. In unseren Schaden- und Aktuariatsteams haben wir Spezialisten, die die Entwicklung der Inflation in allen Segmenten und Regionen überwachen. Außerdem verfolgen wir systematisch die Auswirkungen auf die Schadenskosten in allen Sparten.

Und schließlich stellt die Rückkehr der Inflation ein zweischneidiges Schwert für die Versicherungswirtschaft dar. Einerseits sind steigende Schadenskosten eine Belastung und stellen eine große Herausforderung für die Preisgestaltung dar. Andererseits könnte der damit verbundene Zinsanstieg auf der Anlageseite für Erleichterung sorgen, auch wenn das Anlegen eine Herausforderung bleiben wird, da die Zinswende die Finanzmärkte erschüttern wird, die Kluft zwischen den aktuellen Zinssätzen und den Inflationsraten groß ist und nicht alle angelegten Vermögenswerte sofort, sondern erst in mehreren Jahren von den höheren Zinssätzen profitieren werden.

[1] BBC News, How will the US deal with a shortage of 80,000 truckers?, 8. November, 2021
[2] in2013dollars.com, Legal services priced at $10,000 in 1986 → $39,126.50 in 2022
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