Die „soziale Inflation" stellt das Haftungsumfeld für Unternehmen in Frage und wirkt sich auf potenzielle Schadenzahlungen für Versicherer aus - angetrieben durch eine Vielzahl von Faktoren wie unternehmensfeindliche Stimmungen, den Aufstieg der Prozessfinanzierungsbranche und sogar den zunehmenden Einsatz von Jury-Psychologen. Das Phänomen ist nicht mehr nur auf die USA beschränkt...

Die „soziale Inflation" beschreibt erhöhte Versicherungsschäden, die aus verschiedenen wachsenden Phänomenen resultieren: gewinnorientierte Prozessfinanzierer, härtere Geschworenenurteile, großzügigere Arbeitnehmerentschädigungsansprüche, gesetzliche Entschädigungserhöhungen oder neue Delikt- und Fahrlässigkeitskonzepte.

Soziale Inflation ist besonders in den USA bekannt, nimmt aber weltweit zu. Angetrieben durch einen generationsübergreifenden Verfall des öffentlichen Vertrauens in Unternehmen sind die Trends sozialer Inflation schwer vorherzusagen, vor allem weil sie durch "weiche" soziale Konstruktionen wie die öffentliche Wahrnehmung unternehmerischen Verhaltens oder die sich verändernde Demografie, insbesondere durch den zunehmenden Einfluss der sozialen Medien, angetrieben werden.

„Einfach ausgedrückt, hat sich in den USA eine Fehlerkultur entwickelt, die für Unternehmen äußerst gefährlich sein kann", sagt Larry Crotser, Regional Head of Key Case Management, North America, bei AGCS. "Die akute Wahrnehmung der wirtschaftlichen Ungleichheit in den USA, ein tief sitzendes Misstrauen gegen Institutionen sowie die Wahrnehmung des Wertes einer Verletzung führen zu größeren Schadenwerten als erwartet. Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit und Verärgerung - sogar Wut - über den Status quo.“

Eine Untersuchung von VerdictSearch zeigt, dass die Häufigkeit von Urteilen in Höhe von 20 Millionen Dollar oder mehr im Jahr 2019 im Vergleich zum Jahresdurchschnitt von 2001 bis 2010 um mehr als 300 % gestiegen ist [1].

  • Trends einer sozialen Inflation sind schwer vorherzusagen, da sie von "weichen" sozialen Entwicklungen angetrieben werden, etwa von der öffentlichen Wahrnehmung von Unternehmensverhalten, dem Einfluss der sozialen Medien oder von sich verändernden Demografien
  • Die zunehmende Raffinesse der Klägeranwaltschaft und die sich ändernde Zusammensetzung der Geschworenenpools, die Einfluss darauf haben können, wie Fälle betrachtet und Urteile gefällt werden
  • Neue Optionen für Sammelklagen und ein zunehmender Trend hin zu kollektiven Rechtsbehelfen haben zu einem erhöhten Haftungsrisiko für Unternehmen geführt, während die regulatorischen Hürden in der EU aufgeweicht wurden
  • Traditionelle Betriebs- und Produkthaftpflichtversicherungen, Kraftfahrzeug-, Berufs-, Kranken-, Arbeiterunfall- und D&O-Versicherungsansprüche – sie alle können von sozialer Inflation betroffen sein

In den USA gab es im Jahr 2020 77 gerichtlich genehmigte Vergleiche bei Sammelklagen mit einem Gesamtvolumen von 4,2 Mrd. $. Zwar ist die Anzahl der Vergleiche verglichen mit 2019 (74) nur leicht gestiegen; doch die Gesamtsumme hat sich verdoppelt (2019: 2,1 Mrd. $), was hauptsächlich auf mehrere "Mega"-Vergleiche in Höhe von je über 100 Mio. $ zurückzuführen ist. Der durchschnittliche Vergleichsbetrag im Jahr 2020 betrug 54,5 Mio. $ - ein Anstieg um 15 % gegenüber dem Durchschnitt in den vorangegangenen 9 Jahren [2].

Ein wesentlicher Faktor, der zum Phänomen der sozialen Inflation in den USA beiträgt, ist die zunehmend eingesetzte Raffinesse bei den Anwaltskanzleien der Kläger; dazu gehören Taktiken wie den erweiterten Einsatz von Jury-Beratern und Psychologen, die sich auf Gruppendynamik spezialisiert haben, um die Höhe der Geschworenenzuschläge für Kläger zu beeinflussen.

Ein weiterer Faktor ist die sich ändernde Zusammensetzung der Geschworenenpools, die Einfluss darauf haben kann, wie Fälle betrachtet und Urteile gefällt werden. Sogenannte "Millennials" und "Generation Z"-Altersgruppen nehmen nun als Geschworene teil und ihre Weltsicht kann sich deutlich von der älterer Gruppen unterscheiden. Allerdings neigen auch sie in vielen Fällen dazu, einen Konsens zu suchen und stimmen bei der Urteilsfindung möglicherweise mit der Mehrheit der Mitjuroren überein, um keine "Szene zu machen", so Crotser. Die Zusammensetzung der Geschworenen hat einen großen Einfluss auf die Ergebnisse der Urteile.

„In der Tat setzt der Kläger psychologische Taktiken ein, um den Tatsachenermittler davon zu überzeugen, einen überhöhten Wert des Falles eher zu akzeptieren", sagt Crotser. „Dieser Prozess, der als 'Anchoring' bekannt ist, beginnt am Anfang des Falles, manchmal bevor die Klage bei Gericht eingereicht wird, und wirkt als Leitmotiv während der gesamten Dauer des Rechtsstreits.”

Beim Anchoring werden Menschen bei ihren Entscheidungen durch Informationen aus ihrer Umgebung beeinflusst, ohne dass sie sich dessen bewusst sind; und das wirkt sich möglicherweise auf die letztendliche Abrechnungshöhe aus.

Covid-19 caused class action filings to temporarily slow significantly, resulting in fewer jury trials and more out-of-court settlements. Source: iStock.
  • Obwohl die soziale Inflation in erster Linie ein US-amerikanisches Phänomen ist, hat sie aufgrund ähnlicher Triebkräfte bereits Auswirkungen auf das weltweite Deliktsrecht: wahrgenommene soziale Ungleichheiten, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Entwicklungen hin zu höheren Sorgfaltspflichten, Erweiterungen der Haftungstheorien, Schwächung der Ausschlüsse und das Aufkommen von Prozessfinanzierungsfirmen und weniger Kostenabschreckung.
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  • Auch wenn dies in Kanada eher eine Ausnahme darstellt, da zivile Personenschäden nur selten vor Geschworenengerichten verhandelt werden, kommt es zu Überschneidungen, wenn kanadische Unternehmen von grenzüberschreitenden Klagen in den USA betroffen sind, d.h. wenn ein Unternehmen, das in den USA angegriffen wird, seine kanadische Tochtergesellschaft ebenfalls in der Klage benannt sieht - eine zunehmende Aktivität: [3] 2019 gab es 14 Fälle (vier mehr als 2018) und nur einen weniger als im Spitzenjahr 2011 [4].
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  • Gleichzeitig hat die Prozessfinanzierungsbranche - die zuerst in Nordamerika und Australien bekannt wurde - ihre Aktivitäten außerhalb dieser Gebiete ausgeweitet. Neue Optionen für Sammelklagen und ein zunehmender Trend zu kollektiven Rechtsbehelfen haben zu einem erhöhten Haftungsrisiko für Unternehmen geführt, während die regulatorischen Hindernisse in der EU aufgeweicht wurden. Auch anderswo auf der Welt ist ein bemerkenswertes Wachstum der Prozessfinanzierung zu verzeichnen - so etwa in Saudi-Arabien und Südafrika.
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  • „Wir sehen einen Anstieg des Wertes von Produkthaftungsansprüchen, die zu Zahlungen führen können, die im Vergleich zu dem, was sie waren, bevor Prozessfinanzierung weit verbreitet war, astronomisch sind; laut jüngster Berichte, die das verfügbare Kapital zur Finanzierung von Rechtsstreitigkeiten allein [3] in den USA auf 10 Milliarden Dollar beziffern, ist das eine Menge finanzielle Unterstützung für Klägerverfahren", sagt Crotser.
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  • Inzwischen beginnen auch in Deutschland die Haftpflichtversicherer zu erkennen, dass die potenziellen Auswirkungen der sozialen Inflation teuer werden können, ergänzt Jörg Ahrens, Global Head of Claims Key Case Management, Long Tail Lines, bei AGCS. "Mehr Gerichtsverfahren, höhere Abfindungen und kundenfreundlichere Analysen von Verträgen wirken sich auf deutsche Unternehmen aus. Es ist noch kein dominantes Thema, aber es wird sichtbar, besonders bei selbstversicherten Unternehmen mit internationalen Programmen."
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  • Zudem gibt es eine wachsende Zahl von Beteiligten. Ahrens führt ein Beispiel aus der Logistikbranche an: "Immer mehr Menschen bestellen Waren online, und die Logistikunternehmen reagieren darauf mit mehr Fahrern, die vielleicht nicht mehr so gut ausgebildet sind wie früher, und mit mehr Lkw. Verursacht ein übermüdeter Lkw-Fahrer einen Unfall, geht es schnell um mehr als nur um die Schuld und Haftung des Einzelnen. In solchen Fällen konzentrieren sich die Anwälte nicht nur auf die individuelle Haftung des Fahrers, sondern auch auf das Organisationsverschulden des Arbeitgebers", sagt Ahrens.
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  • Traditionelle Betriebs- und Produkthaftpflichtversicherungen sowie Kfz-, Berufs-, Kranken-, Arbeiterunfall- und D&O-Versicherungsansprüche können von der sozialen Inflation betroffen sein. „Makler sollten einen vielschichtigen Ansatz installieren, um sicherzustellen, dass sie Unternehmen zu Versicherungspartnern lenken, die auf dem Gebiet der sozialen Inflation erfahren sind und ausgesprochen proaktiv bei der Analyse von Rechtsstreitigkeiten bzw. Versicherungstrends sind", sagt Crotser. „Es ist wichtig, mit Hilfe ihres Versicherers zu verstehen, wie die Auswirkungen aussehen können, und rechtzeitig einen Dialog über die Erwartungen zu führen, wenn neue Bedingungen herauskommen oder Verlängerungen von Versicherungsverträgen anstehen."
  • Geschworene misstrauen großen Konzernen und ihren Anwälten
  • Es ist eine Industrie entstanden, die sich der Finanzierung von Klagen von Klägerinnen und Klägern widmet (Litigation Funding) - weniger abschreckende Kosten
  • Zunehmende Komplexität auf Seiten der Klägeranwaltschaft
  • Neue psychologische Taktiken, um den Fact Finder zu überzeugen, einen überhöhten Wert leichter zu akzeptieren - "Anchoring" - Emotionen versus Fakten
  • Aktive Print- und elektronische Werbung durch die Anwaltskammer der Kläger
  • Die veränderte Zusammensetzung der Geschworenen hat potenzielle Auswirkungen auf die Beurteilung von Fällen
  • Potenzielle Geschworene sind durch soziale Medien stärker auf "Blockbuster"-Urteile aufmerksam geworden
  • Die Krankheitskosten sind von Jahr zu Jahr gestiegen
  • Veränderungen in Wahrnehmung und Einstellungen - Schaffen von "sozialer Gerechtigkeit" (Richterbank) aufgrund der Bewertung der neuen öffentlichen Stimmung und der sozialen Norm
  • Einfluss und Verbreitung sozialer Medien (Narrative versus Fakten)
  • Neue Prozesstaktiken (z. B. Ausnutzung fortschrittlicher Analytik)
  • Kürzere Schadenzyklen aufgrund von Kostendruck und Reputationsaspekten
  • Entwicklungen in der Gesetzgebung:
    > Kollektiver Rechtsschutz (Opt-out - Opt-in, Beweislast, Hemmung der Verjährung)
    > Niedrigere Standards für Schriftsätze
    > Entwicklungen im Deliktrecht - höhere Sorgfaltspflichten, Ausweitung der (Störer-) Haftungstheorien, Abschwächung von Ausschlüssen, Beweislastumkehr
  • Entstehung einer Industrie, die sich der Finanzierung von Klagen von Klägerinnen und Klägern widmet (Litigation Funding) - weniger abschreckende Kosten

Im Zuge der Covid-19-Pandemie wirkten sich die Schließung von Gerichten und die Unsicherheit bezüglich der Wiedereröffnung auf das rechtliche Umfeld aus, obwohl die Anzahl der Vergleiche bei Sammelklagen etwa gleich hoch war wie vor der Pandemie – was im Einklang steht zu den historischen Trends vor 2019, als die mittleren Vergleichssummen aufgrund der geringeren Anzahl kleinerer Vergleiche historisch hoch waren.

Da die Anwälte während des Lockdowns aus der Ferne und mit eidesstattlichen Erklärungen arbeiteten, haben sich die Rechtsverfahren möglicherweise etwas verlangsamt; doch jede Unterbrechung - vor allem im April, als die harten Lockdowns begannen und nur 3,9 % der Fälle beigelegt wurden, verglichen mit 7,4 % im Jahr 2019 [6] - war nur vorübergehend; im Mai folgte eine Rückkehr zu den normalen Aktivitäten, was sich über den Rest des Jahres fortsetzte. Die Menge der durchgeführten Geschworenenprozesse geriet 2020 weiterhin etwas in Verzug, was sich im Laufe des Jahres 2021 korrigieren dürfte.

„Wir haben Anfang 2020 nur sehr wenige „Mega“-Prozesse in Bezug auf Personenschäden gesehen; darunter einen aus Washington mit einem Urteil von 410 Mio. $ für einen Autobahnunfall in Florida und einen mit 125 Mio. $ in New Jersey für einen Kläger, der durch einen umstürzenden Telefonmast schwer verletzt worden war; seitdem scheint es eine Rückkehr zu historischen Trends zu geben, wonach die Vergleiche eher auf einem höheren Niveau liegen", so Crotser.

[1] Wall Street Journal, Das Gespenst der sozialen Inflation sucht die Versicherer heim, 27. Dezember 2019
[2] Cornerstone Research, Securities Class Action Settlements – 2020 Review And Analysis, March 18, 2021
[3] AGCS, Collective actions and litigation funding and the impact on securities claims: A global snapshot, Juli 2020
[4] NERA Economic Consulting, Trends in Canadian class actions: 2019 Update: Cannabis-Prozesse führen zu neuen Höchstständen, 19. März 2020
[5] Bloomberg Law, How litigation finance works: Making millions off other people's lawsuits, 2021
[6] Cornerstone Research

Titelbild: iStock

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