ESG hält Einzug in den Mainstream (und in die Vorstandsetage)

24. März 2021
Die Entwicklung von einer freiwilligen Regelung für Unternehmen rund um Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen (ESG) hin zu einem stärker regulierten und verpflichtenden Regime, das Transparenz, Offenlegung und Berichterstattung miteinschließt, ist in vollem Gange. Obwohl es derzeit keine globalen, standardisierten ESG-Reporting-Benchmark-Anforderungen gibt, sind "harte" gesetzliche Maßnahmen mit "Zähnen" im Kommen. Manager aufgepasst...

Laut der Anwaltskanzlei Herbert Smith Freehills hat es seit 2018 über 170 ESG-Regulierungsmaßnahmen auf nationaler und EU-Ebene gegeben, wobei Europa mit rund 65 % aller ESG-bezogenen Regulierungen weltweit führend ist. So hat die „Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichterstattung“ Unternehmen dazu verpflichtet, über eine Vielzahl von ESG-bezogenen Kennzahlen zu berichten, während die Europäische Kommission im vergangenen Jahr ihren Abschlussbericht zur EU-Systematik veröffentlicht hat - ein Klassifizierungssystem, das eine Liste ökologisch nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten erstellt. Außerhalb Europas hat die Institutional Shareholder Services kürzlich angekündigt, einen ähnlichen Standard auf Basis der EU-Systematik einzuführen. Letztlich wird diese sich verändernde Landschaft Einfluss darauf nehmen, wie und in welche Sektoren Unternehmen und Fonds investieren; denn sie werden sich darüber Gedanken machen, ob ein bestimmtes Asset in die Systematik oder ESG-Strategie passt, wie sie darüber berichten und was Aktionäre und Stakeholder davon halten.

Da Investitionsentscheidungen zunehmend von diesem neuen Umfeld beeinflusst werden, wird sich auch die Rolle des Risikomanagements und insbesondere die des Vorstands verändern. Die Pflichten der Vorstände werden in vielen Rechtsordnungen bereits jetzt immer lauter hinterfragt und dies wird sich angesichts der sich verschärfenden regulatorischen Rahmenbedingungen nur noch verstärken. Fragen und Klarheit darüber, wer im Unternehmensvorstand für ESG-Themen, wie z.B. den Klimawandel, verantwortlich ist, sind dann nicht mehr nur eine Sache des "nice to have", sondern ein wesentlicher Aspekt, wenn die Pflichten der Vorstände in Zukunft als angemessen erfüllt angesehen werden sollen. Solche Themen müssen daher ganz im Zentrum der Unternehmensentscheidungen stehen.

  • Über 170 ESG-Regulierungsmaßnahmen wurden seit 2018 auf nationaler und EU-Ebene eingeführt. Auf Europa entfallen rund 2/3 aller ESG-bezogenen Regulierungen
  • Da Investitionsentscheidungen zunehmend von diesem neuen Umfeld beeinflusst werden, ist auch die Rolle des Risikomanagements und die des Verwaltungsrats gefordert.
  • Rechtsstreitigkeiten oder Anleger-, Aktionärs- und Aktivistenklagen konzentrieren sich zunehmend auf ESG-Themen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung, Diversität, Cybersicherheit und sogar CEO-Vergütung
  • Es ist entscheidend, ESG-Risiken über die Risikoregister und Ausschüsse eines Unternehmens zu identifizieren und sicherzustellen, dass verstanden wird, wie sie sich innerhalb und außerhalb der Vorstandsetage auswirken werden.

Der Markt für Directors and Officers (D&O)-Versicherungen hat in den letzten Jahren bereits einige signifikante Herausforderungen erlebt - insbesondere im Hinblick auf die gestiegene Schadenhäufigkeit und -schwere. Einer der Gründe dafür ist eine deutliche Verlagerung in diesem Umfeld: von traditionellen, mit dem Jahresabschluss oder der Berichterstattung zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten, wie z. B. Konkurs oder Betrug, hin zu so genannten „ereignisgesteuerten" oder „Bad News"-Rechtsstreitigkeiten, die oft zu erheblichen Wertpapier- oder Derivatansprüchen von Aktionären führen können, falls die "Bad News" einen Aktienkursverfall oder eine behördliche Untersuchung zur Folge haben.

„In zunehmendem Maße können solche Vorfälle ESG-Themen einbeziehen", sagt Shanil Williams, Global Head of Financial Lines bei AGCS. „Und wenn ein ESG-Thema vom Unternehmen oder Vorstand nicht angemessen gehandhabt oder offengelegt wird, kann dies zu 'schlechten Nachrichten' in ihrem Markt, 'schlechten Nachrichten' für den Aktienkurs des Unternehmens und 'schlechten Nachrichten' in Form von regulatorischen und rechtlichen Maßnahmen führen. ESG-Themen stellen ein erhebliches D&O-Risiko für Unternehmen und ihre Versicherer dar.“

„Die Gesetzgebung entwickelt sich weiter. Die Regulierungsbehörden werden aktiver, ebenso wie viele andere Stakeholder auch. Unternehmen, auch heutige und künftige D&O-Versicherer, müssen sich der aktuellen globalen ESG-Themen bewusst sein (von der aktivistischen Investorenkampagne bis zu Protesten gegen soziale Gerechtigkeit oder Geldwäsche), um potenzielle Gefahren und die Art und Weise, wie sie sich im Hinblick auf eine potenzielle Haftung manifestieren können, adäquat zu bewerten. Es gibt eine wachsende Anzahl von Themen, die die Vorstände im Blick haben müssen und bei denen wir bereits Beispiele für Rechtsstreitigkeiten, Investoren-, Aktionärs- und Aktivistenklagen oder D&O-Ansprüche sehen."

ESG topics can pose significant risks for companies. Source: AGCS
  • Maßnahmen zum Klimawandel: Obwohl ESG ein viel breiteres Spektrum als nur den Klimawandel umfasst, nämlich Themen wie soziale Mobilität, Diversität, Wirtschaft und Menschenrechte sowie nachhaltige und soziale Investitionen, steht der Klimawandel verständlicherweise im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Ein Großteil der bisherigen Rechtsstreitigkeiten drehte sich um die Offenlegung; Unternehmen und Vorstände haben es versäumt, die wesentlichen Risiken des Klimawandels angemessen offenzulegen. So gab es in den USA in jüngster Zeit eine Reihe von Prozessen nach Waldbränden; es wurde behauptet, dass Unternehmen die Veränderungen in der Umwelt, die zu mehr Waldbränden führten, nicht offengelegt hätten, und auch nicht, wie sich dies negativ auf das Geschäft auswirken könnte. Die Vorstände von Unternehmen haben die unverzichtbare Aufgabe, unternehmerische Verantwortung für das Klima zu übernehmen, mit aller Sorgfalt und mit entsprechender Berichterstattung.
  • Im letzten Jahr gab es einen starken Anstieg von Rechtsstreitigkeiten zur Diversität in Vorständen, insbesondere in den USA;  dabei wurde den Vorständen in der Regel ein Versagen ihrer Fürsorgepflicht wegen unzureichender Vielfalt im Board oder anderen Führungspositionen vorgeworfen. Eine Reihe von Studien belegt, dass Vielfalt im Vorstand zu einem besseren Risikomanagement und einer besseren finanziellen Leistung führt. Laut McKinsey & Company haben Unternehmen im obersten Quartil für geschlechtliche, ethnische und kulturelle Vielfalt in ihrem Führungsteam eine um 25 % höhere Wahrscheinlichkeit, eine überdurchschnittliche Rentabilität oder Outperformance zu erzielen als Unternehmen im vierten Quartil [1]. Der Aufschwung bei den Rechtsstreitigkeiten begann in Kalifornien, wo eine Reihe von Technologieunternehmen wie Oracle und Facebook mit Klagen konfrontiert wurde. "Dass die Zusammensetzung und Diversität des Boards ausreichend ist, um Risiken effektiv zu managen, ist ein Thema, das in Zukunft noch an Bedeutung und Steuerung zunehmen wird", sagt Williams.
  • Umweltverschmutzung und Umweltkatastrophen: Nach Ereignissen wie einem Staudammbruch oder eines Ölaustritts in einem ökologisch sensiblen Gebiet werden die Vorstände und Geschäftsführer der betroffenen Unternehmen immer häufiger dazu befragt, ob sie über angemessene Risikomanagement-Prozesse verfügten, um solche Vorfälle zu verhindern, und inwieweit sie sich der Möglichkeit eines solchen Ereignisses bewusst gewesen waren.
  • Greenwashing-Behauptungen: Vorfälle, in denen Unternehmen irreführende Angaben machen, um in der Öffentlichkeit ein umweltfreundlicheres und verantwortungsbewussteres Image zu präsentieren, waren in den USA bereits Gegenstand von Gerichtsverfahren, und ein hartes Durchgreifen der Aufsichtsbehörden steht unmittelbar bevor. In Großbritannien hat die Financial Conduct Authority eine Reihe von Prinzipien entwickelt, um gegen falsche Behauptungen vorzugehen. Die Task Force on Climate-Related Financial Disclosures, die Securities and Exchange Commission (SEC) in den USA und europäische Aufsichtsbehörden beschäftigen sich ebenfalls mit diesem Thema.
  • Die Vergütung von CEOs ist ein weiteres heißes Thema, insbesondere für Investoren. Der norwegische Staatsfonds mit einem Volumen von einer Billion Dollar - einer der größten der Welt - ist nur einer derjenigen, die aufgrund von Bedenken über undurchsichtige Vergütungen ein aktives Stewardship für die Vergütungsvorschläge des Managements in den Unternehmen, in die sie investieren, entwickelt haben. Gleichzeitig gibt es eine wachsende Zahl von Unternehmen, die die Vergütung von CEOs oder Geschäftsführern an klima-/ESG-bezogene Ziele wie die Reduzierung von Treibhausgasen koppeln wollen.
  • Cybersicherheit wird schnell zu einem der wichtigsten ESG-bezogenen Themen, insbesondere im Hinblick auf die Nachhaltigkeit eines Unternehmens. Die Bestimmung des Cyber-Resilienz-Status eines Unternehmens wird für Investoren immer wichtiger, während die Bewertung potenzieller Cyber-Risiken ein wesentlicher Bestandteil jedes M&A-Prozesses sein sollte, angesichts der Anzahl großer Datenschutzverletzungen und der Möglichkeit, dass ein akquirierendes Unternehmen für Vorfälle vor der Fusion haftbar gemacht werden könnte. Die Datenschutzverletzung von Marriott im Jahr 2018, die zu einer behördlichen Geldstrafe von mehr als 20 Mio. US-Dollar für die Hotelgruppe führte, wurde auf einen Einbruch im Jahr 2014 bei Starwood zurückgeführt, einer Hotelgruppe, die 2016 übernommen wurde. "Cybersicherheit ist ein großes Governance-Thema für Unternehmen - es muss sichergestellt werden, dass es auf Vorstandsebene verstanden wird und dass Prozesse zur Überwachung von Cyberrisiken vorhanden sind", sagt Williams. "Die Hauptbeschwerde der Investorengemeinschaft bezieht sich auf die Transparenz. Es ist schwer, die Cyber-Risiken eines Unternehmens zu verstehen. Und viele Unternehmen waren aus verschiedenen Gründen etwas zurückhaltend mit der Transparenz; doch die, die mehr Transparenz bieten, sehen sicherlich den Nutzen. Mit dem zunehmenden Fokus auf Digitalisierung und Remote-Arbeit infolge der Covid-19-Pandemie wird dieses Thema noch wichtiger werden."
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  • Weitere Beispiele für ESG-Themen, die auf dem Risiko-Radar erscheinen: Die Auswirkungen neuer Lieferkettengesetze in Bezug auf die Beihilfe zur Verletzung von Kinderarbeitsgesetzen sowie Strategien zum Wassermanagement und zur Verringerung der Artenvielfalt, da hier Missbrauch zunehmend unter die Lupe genommen wird.

Eine Krise ist der wahre Test für die Unternehmensführung. Und für viele Unternehmen hat sich die Pandemie als eine enorme Lernkurve erwiesen, wobei der Vorstand im Mittelpunkt des Krisenmanagements des Unternehmens stehen muss. Eine positive Veränderung, die sich abzeichnet, ist die Anerkennung der wachsenden Notwendigkeit, ein breiteres Spektrum potenzieller Risiken als bisher zu überwachen, zu managen und darüber zu berichten (einschließlich nicht-finanzieller Themen), was dazu führen könnte, dass viele Unternehmen heute besser für das Aufkommen neuer Offenlegungsregelungen zu ESG-Risiken positioniert sind.

"Was wir aus unserer eigenen ESG-Erfahrung gelernt haben, ist, dass man ein starkes Engagement auf Management- und Vorstandsebene braucht", sagt Michael Bruch, Global Head of Liability Risk Consulting/ESG bei AGCS. "Innerhalb des Allianz-Konzerns haben wir ein eigenes ESG-Board implementiert, so dass alle wichtigen Unternehmenszentralen sich wirklich für Nachhaltigkeit und das ESG-Thema engagieren, einschließlich der Festlegung konkreter Ziele vom Top-Management abwärts. Dann geht es darum, dies in die Ausführung zu übersetzen.“

"ESG-Risikothemen sollten in das unternehmensweite Risikomanagement und in alle relevanten operativen Prozesse integriert werden. Wir beobachten in vielen Branchen unserer Kunden -insbesondere im Energie- und Versorgungssektor, der durch die Umstellung des eigenen Geschäftsmodells auf grüne Energie stark herausgefordert ist-, dass ESG und Nachhaltigkeit einen hohen Einfluss auf nahezu alle Funktionen im Unternehmen haben."

Unternehmen und ihre Vorstände können davon profitieren, wenn sie eine interne Due Diligence ihrer Entscheidungsprozesse durchführen und alle potenziellen Risikobereiche ermitteln. So steigt etwa das Risiko eines Rechtsstreits wegen des Klimawandels, je höher die Diskrepanz ist zwischen dem, was ein Unternehmen intern tut und sagt, und dem, was es extern tut und sagt (vor allem, wenn öffentliche Aussagen oder Handlungen eines Unternehmens gegen einen rechtlich verbindlichen Rahmen verstoßen könnten). Die Auseinandersetzung mit ESG-Themen ist entscheidend. ESG sollte nicht nur ein paar Mal im Jahr auf der Tagesordnung des Vorstands stehen, vielmehr sollten Unternehmen Nachhaltigkeitsthemen und -denken in der gesamten Organisation fest verankern. Über die interne Steuerung hinaus ist es wichtig, dass der Vorstand entsprechende Fähigkeiten erwirbt und die externen Anforderungen versteht, um langfristig erfolgreich zu sein.

"Es ist entscheidend, ESG-Risiken in den Risikoregistern und Ausschüssen eines Unternehmens zu identifizieren und sicherzustellen, dass verstanden wird, wie sie sich innerhalb und außerhalb der Vorstandsetage auswirken werden", fügt Williams hinzu. "Bei der Offenlegung geht es nicht nur um die verschiedenen Regelungen, die auf der ganzen Welt eingeführt werden, sondern auch darum, wie man gegenüber der breiteren Öffentlichkeit - Mitarbeitern, Stakeholdern und den Medien – offen kommuniziert, denn gerade die negative Berichterstattung in den Medien kann verheerende Auswirkungen auf den Ruf haben."

1. The United Nations Principles for Sustainable Insurance Initiative
2. 97 sustainable insurance solutions, 28 emerging consumer solutions, 35 insurance solutions with sustainability component

Bei ESG geht es laut Bruch nicht nur um Governance. Angesichts der eigenen Initiativen bei der Allianz und eigener Erfahrungen mit ESG-Best-Practice in verschiedenen Industriesektoren, tun sich aus Sicht des Versicherers auch weitere Möglichkeiten auf: etwa die Unterstützung von Unternehmen bei der Verbesserung ihrer ESG-Fähigkeiten. Außerdem können ESG-Informationen dazu beitragen, den Underwriting-Prozess zu verbessern - zum Vorteil für die Unternehmen und die Versicherer.

"Wir nutzen ESG-Daten in unserem D&O-Versicherungs-Underwriting", erklärt Williams (als Teil einer Partnerschaft mit dem Investment- und Risikoberater The Value Group). "Wir haben viele ESG-Datenpunkte statistisch mit Schadensfällen und öffentlichen Rechtsstreitigkeiten abgeglichen und sehen darin eine gewisse Vorhersagekraft. Aus der Sicht eines Versicherers werden Gespräche über ESG-bezogene Themen, zusätzlich zu den finanziellen Themen, immer wichtiger."

[1] McKinsey, Diversity Works: A Study On Why Inclusion Matters, May 19, 2020

Titelbild: iStock

This article is part of the our Global Risk Dialogue. Appearing twice a year, Global Risk Dialogue is the Allianz Global Corporate & Specialty magazine with news and expert insights from the world of corporate risk.
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