Überschwemmungen: wahrscheinlicher, extremer und unvorhersehbarer

Expert risk article | November 2021
2021 war ein Jahr der Klimaschocks, unter anderem wegen gewaltiger Überschwemmungen in Europa, Asien und Amerika. Was bislang ein relativ klar definiertes Risiko war, ist unberechenbar geworden - mit beispiellosen Folgen; für Business Continuity vorzusorgen ist somit wichtiger denn je.
  • Noch nie dagewesene Wettermuster stellen die Hochwasserrisikolandschaft in Frage, die zuvor durch staatliche bzw. historische Aufzeichnungen ausreichend definiert war
  • Viele Hochwasserschäden treten außerhalb der kartierten Überschwemmungsgebiete auf; Unternehmen außerhalb bekannter Gefahrenzonen können auch von Überflutungen durch kleine Flüsse oder Bäche betroffen sein.
  • Das Hochwasserrisiko wird einerseits durch "Wurfgeschosse" wie fortgerissene Autos und Baumstämme, andererseits durch mit der Wiederaufnahme des Betriebs verbundenen Gefahren noch verstärkt.
  • Unternehmen sollten Notfallpläne erstellen, die Frühwarnsysteme enthalten, um Überschwemmungen zu vermeiden, Verluste zu verringern und eine schnelle Wiederaufnahme des Betriebs zu ermöglichen.

Der Regen begann am 12. Juli in ganz Europa zu fallen. Der Sturm brach über dem Vereinigten Königreich aus und zog nach Osten über Frankreich, Belgien, die Niederlande und dann nach Deutschland. Dort kam er für zwei Tage zum Stillstand. Während dieser Pause fielen in Ostbelgien mehr als 20 Zentimeter und in Westdeutschland 15 Zentimeter Regen in 24 Stunden – so viel wie in einem ganzen Monat.

Bäche schwollen an, traten über die Ufer und es begannen die Sturzfluten. Autos und Häuser wurden weggeschwemmt; Straßen wurden zerstört und mit Schlamm bedeckt; der anhaltende Regen löste massive Erdrutsche aus, die so stark waren, dass ein Teil des historischen Schlosses in Erftstadt bei Köln mitgerissen wurde.

Mindestens 220 Menschen starben in Deutschland und Belgien. Der versicherte Schaden wird auf bis zu 7 Milliarden Euro geschätzt [1]. Die New York Times stellte fest, dass es in den betroffenen Regionen in den letzten 1.000 Jahren keine so starken Regenfälle gegeben hat.

Wenig später kam es in Zentralchina zu schweren Überschwemmungen. In der Stadt Zhengzhou, in der die Hälfte aller iPhones der Welt hergestellt wird, fielen innerhalb von drei Tagen über 61,7 Zentimeter Regen - mehr als in einem normalen Jahr. Mehr als 300 Menschen starben, 9.000 Häuser wurden beschädigt, 13 Millionen Menschen waren betroffen; die Welt wurde mit dem Bild eines U-Bahn-Waggons voller Menschen konfrontiert, die immer verzweifelter werden, während die Fluten allmählich zur Decke steigen. Nach Angaben des Wetteramtes von Zhengzhou war ein solcher Sturm nur einmal in tausend Jahren zu erwarten.

Ende August traf der Hurrikan Ida in Louisiana (USA) auf Land, bevor er nach Norden zog. Seine Überreste lösten an der Nordostküste des Landes eine Rekordüberschwemmung aus, die 50 Menschen das Leben kostete und die Gouverneure von New York und New Jersey veranlasste, den Notstand auszurufen. Die versicherten Gesamtschäden werden auf 30 bis 40 Mrd. US-Dollar geschätzt.

Hochwasserkatastrophen sind das Ergebnis eines komplexen Geflechts aus klimatischen, hydrologischen und sozialen Faktoren. Wissenschaftler haben jedoch schnell erkannt, dass die Katastrophen auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Schließlich warnen sie seit Jahren, dass der Klimawandel zu mehr Überschwemmungen in China, Europa und anderswo führen wird. Für jedes Grad Celsius Erwärmung kann die Atmosphäre etwa 7 % mehr Feuchtigkeit aufnehmen [2], was eine Verstärkung der Regenfälle zur Folge haben kann.

"Die Hochwasserrisikolandschaft, die bisher durch historische und staatliche Hochwasserkarten und bis zu einem gewissen Grad auch durch lokales Wissen gut definiert war, wird durch unberechenbare und noch nie dagewesene Wettermuster in Frage gestellt", sagt Boris Gao, Senior Risk Consultant bei Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) mit Sitz in Shanghai. "Was wir als 'normal' akzeptiert haben, wird durch die neuen Realitäten des Klimawandels, der schnellen Urbanisierung und der menschlichen Entwicklung in Frage gestellt. Daraus ergeben sich spezifische neue Risiken für Unternehmen."

The clean-up operation and return to service after a fl ood entail their own risks and must be undertaken carefully. Photo: Adobe Stock

Wie um Gaos Aussage zu unterstreichen, wurde kurz nach den Überschwemmungen der neueste Bericht des zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen der Vereinten Nationen veröffentlicht. Darin wird klargestellt, dass die diesjährigen extremen Wetterereignisse auf den Anstieg der Durchschnittstemperaturen zurückzuführen sind. Katastrophen wie die jüngsten Überschwemmungen werden noch schlimmer werden, da sich der Wasserkreislauf mit der Erwärmung des Planeten weiter intensiviert. Jeder Bruchteil an Erwärmung wird zu stärkeren Niederschlägen, einem höheren Anstieg des Meeresspiegels, intensiveren Dürren und extremen Waldbränden führen.

Thomas Heintz, Property Risk Consultant bei AGCS, weist darauf hin, dass Hochwasserschäden auch außerhalb der kartierten Flussüberschwemmungsgebiete auftreten können. "Das Schadensbild der jüngsten Überschwemmungen in Europa dürfte ähnlich sein; auch Unternehmen, die außerhalb gängiger Gefahrenzonen, jedoch in der Nähe kleinerer Flüsse oder gar Bäche liegen, sind von massiven Überschwemmungen betroffen", sagt er. Verluste infolge von Sturzfluten in kleineren Flüssen sind, weil unvorhersehbarer, zudem oft größer als Überschwemmungsschäden, die entlang größerer Flüsse entstehen.

Thomas Varney, im 7.000 Kilometer entfernten Chicago ansässig, kann dem nur zustimmen. Nach einer weiteren beispiellosen Feuer-Saison erinnert sich der Allianz Risk Consultancy Regional Manager für Nordamerika an die vielen Überschwemmungen der letzten Zeit.

"Wenn ich mir Europa anschaue, erinnert mich das sofort an den Hurrikan Harvey", sagt Varney. "Wenn man so viel Wasser in kurzer Zeit auf einen beliebigen Ort auf der Welt fallen lässt, wird er unglaublich schnell überflutet." 

Hurrikan Harvey war ein verheerender Hurrikan der Kategorie 4, der im August 2017 auf Texas und Louisiana traf und katastrophale Überschwemmungen und mehr als 100 Todesopfer verursachte. Im Laufe von vier Tagen fiel mehr als ein Meter Regen, während der Sturm langsam über Osttexas hinweg zog, was zu beispiellosen Überschwemmungen führte und die Stadt Houston lahmlegte. Es blieb das bedeutendste tropische Wirbelsturm-Regenereignis in der Geschichte der Vereinigten Staaten, sowohl in Bezug auf das Ausmaß als auch auf die Spitzenregenmengen seit Beginn der zuverlässigen Aufzeichnungen in den 1880er Jahren.

Doch Rekordregenfälle und Sturzfluten sind nur ein Teil des Risikos. "Über Fluttiefen und Niederschlagsmengen wird viel berichtet, aber andere Faktoren wie die Geschwindigkeit der Flut und Flut-'Geschosse' - wie Autos, Baumstämme oder Haushaltsgeräte - erhöhen das Risiko", sagt Carina Pfeuffer, Catastrophe Risk Analyst bei AGCS.

Varney empfiehlt Unternehmen, sich auf solche Naturereignisse mit einem Hochwasser-Notfallplan bzw. einem Business Continuity Plan vorzubereiten, um mögliche Verluste zu reduzieren. "Die aktuellen Ereignisse zeigen, wie wichtig es ist, auch an den Fortlauf des Betriebs zu denken", kommentiert er.

Ein Plan zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs sollte Folgendes umfassen:

  • Auflistung der Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten im Notfall
  • Auflistung von Auftragnehmern für die Schadensbeseitigung, von Maschinenherstellern, Versorgungstechnik und anderen wichtigen Anbietern 
  • Kontaktinformationen für Auftragnehmer von Versorgungsunternehmen 
  • Klarheit darüber, wohin kritische Vorräte, Ausrüstungen oder Unterlagen im Notfall sehr schnell verlagert werden können 
  • Angabe alternativer Zugangsmöglichkeiten zum Standort
  • gegebenenfalls vorübergehende Ausweichmöglichkeiten für die Fertigung, entweder intern oder durch Auftragsfertigung bei externen Anbietern 
  • die Planung der Betriebskontinuität muss im Voraus erstellt und regelmäßig überprüft werden.

Weitere Informationen zur Betriebskontinuitätsplanung finden Sie unter Szenarioplanung für künftige Unterbrechungen

Viele Unternehmen in Westdeutschland mussten mit Erschrecken feststellen, dass ihre Notfallpläne angesichts der Wassermassen schnell überfordert waren, sagt Jürgen Wiemann, Regional Head of Property bei AGCS, Deutschland. "Unsere Risikoingenieure empfehlen allen Unternehmen, Frühwarnsysteme zu nutzen und einen Hochwasser-Notfallplan zu erstellen, um mögliche Schäden zu reduzieren und auf Extremereignisse angemessen vorbereitet zu sein."

Es ist nicht möglich, alle Standorte gleichermaßen widerstandsfähig zu machen; die Maßnahmen sollten unter Berücksichtigung der Risikoexposition wie der geografischen Lage und des Risikos von Naturkatastrophen sowie im Hinblick auf die Bedeutung des Standorts für die Wertschöpfung und dessen Stellung in der Lieferkette abgewogen werden.

Neben Sandsäcken und anderen physischen Barrieren könnten zu den Hochwasserschutzmethoden auch die Sicherung leerer Container gehören, die weggeschwemmt werden könnten, die Verstärkung von Dächern, insbesondere in Eck- und Randbereichen, um die einwirkenden Sturmkräfte abzufangen, oder die Befestigung von Dachaufbauten, wie z.B. Solarpaneelen.

Heintz fügt hinzu, dass die Unternehmen oft zögern, sich die Mühe zu machen, einen Plan für die Aufrechterhaltung des Betriebs zu erstellen. "Dennoch gibt es immer wieder gute Beispiele von Kunden, die diesen Plan im Schadensfall aus der Tasche ziehen können und damit einen entscheidenden Geschwindigkeitsvorteil haben, um ihren Betrieb schnell wieder aufzunehmen."

Business Continuity Pläne für Krisenereignisse - Überschwemmungen sind nur ein Szenario unter vielen - müssen im Voraus erstellt und regelmäßig überprüft werden.

Sobald ein „Ereignis“ eingetreten ist, müssen Unternehmen schnell reagieren, um die Unterbrechung so gering wie möglich zu halten, erklärt Michael Specht, Head of Field Adjusting, Energy & Construction CEE, bei AGCS.

"Zunächst ist es wichtig, die elektronische Versorgung abzuschalten und den Abfluss von schadstoffhaltigen Flüssigkeiten zu verhindern, damit keine Schwermetalle oder Öle ins Grundwasser gelangen. Außerdem müssen wichtige Gegenstände und Dokumente sicher gelagert sowie Maschinen und Produktionsanlagen abgesichert werden."

Der zweite und für den späteren Versicherungsanspruch entscheidende Schritt ist die Besichtigung und Aufnahme des Schadens mit dem Versicherungssachverständigen und die Einleitung von Trocknungsmaßnahmen in den Produktionshallen.

Eine Überschwemmung ist immer eine Ausnahmesituation, die bei der Wiederinbetriebnahme erhöhte Risiken birgt. Maschinen und Anlagen, vor allem hochwertige und produktionskritische Anlagen, müssen umfassend gereinigt und getrocknet werden. Elektrische Geräte sollten vor dem Einschalten überprüft und gegebenenfalls repariert werden, um Kurzschlüsse und anschließende Entzündungen zu vermeiden.

Auch die Bodeneinläufe im Innen- und Außenbereich, Dachrinnen, Fallrohre und Auffangwannen müssen von Verunreinigungen befreit werden. Schließlich müssen die Sicherheitseinrichtungen so schnell wie möglich wieder in Betrieb genommen und Zündquellen beseitigt werden, um Brände zu vermeiden.

  • 1 Mrd. US$  Geschätzte Überschwemmungsschäden weltweit seit 1980, von denen nur 12 % versichert waren [4]
  • 181 %  mehr gemeldete Hochwasserereignisse im Jahresdurchschnitt seit 1980 [5]
  • 2,2 Milliarden Menschen leben an Orten, die bei einem Hochwasserereignis, das sich alle hundert Jahre ereignet, voraussichtlich überschwemmt werden [6]
  • 25 Länder könnten zu den 32 Ländern, die bereits jetzt von zunehmenden Überschwemmungen betroffen sind, bis zum Jahr 2030 infolge des klimatischen und demografischen Wandels hinzukommen [7].

Eine der Fragen, die sich bei einer Zunahme extremer Wetterereignisse stellt, ist: Sollten Unternehmen ihre Versicherungen aufstocken oder müssen Versicherungsunternehmen ihre Prämien erhöhen? Wiemann sagt, dass Unternehmen im Allgemeinen besser gegen Naturgefahren versichert sind als Privathaushalte - in Deutschland sind beispielsweise nur etwa 46 % der Haushalte gegen Überschwemmungen und Starkregen versichert. Die klassische Sachversicherung für Unternehmen umfasst in der Regel auch den Schutz gegen Elementarschäden.

"Als Versicherer müssen wir in Zukunft mit einer zunehmenden Gefährdung durch Überschwemmungen rechnen, insbesondere nach Starkregen", sagt er. "Nach unserer Einschätzung wird dies auch Auswirkungen auf die Kapazitätsvergabe haben. Kunden, die uns mit geeigneten Risikomanagementkonzepten überzeugen, werden beim Abschluss von Versicherungsschutz Vorteile haben."

Er erklärt, dass die Prämie für eine Elementarschadenversicherung vom individuellen Risiko, der Deckung und der Eigenbeteiligung des Kunden abhängt. Weitere relevante Kriterien sind die Lage des Risikos, Schutzkonzepte, die Gefährdung der versicherten Objekte, Vorsorgemaßnahmen für das Business Continuity Management und die Aufrechterhaltung/Wiederaufnahme des Betriebs nach einem Schadenereignis.

"Die jüngsten Katastrophenberichte über Wetterextreme rund um den Globus sind ein überfälliger Weckruf", sagt Wiemann. "Versicherer und ihre Firmenkunden müssen sich darauf einstellen, dass Ereignisse, die in den vergangenen Jahrhunderten aufgetreten sind, in den kommenden Jahrzehnten häufiger auftreten könnten. Der Klimawandel ist eine Realität."

Überschwemmungen sind nur ein Beispiel für Wetterextreme, auf die Unternehmen vorbereitet sein müssen - auch Starkregen, Dürre und extreme Kälte können ihren Tribut fordern. AGCS kann seinen Kunden im Rahmen der präventiven Schadenverhütungsberatung helfen, ihre Notfallpläne zu bewerten und gegebenenfalls Verbesserungen empfehlen. AGCS bietet auch eine hilfreiche Hochwasser-Checklisten [3] an, die Tipps, Maßnahmen und Ratschläge für die Zeit vor, während und nach einer Überschwemmung geben.

[1] German Insurance Association (gDV)
[2] IpCC Frequently Asked Questions, p13
[3] Munich Re, Risks From Floods, Storm Surges and Flash Floods: Underestimated Natural Hazards
[4] Marsh McLennan, Sunk Costs: the Socioeconomic Impacts of Flooding, June, 2021
[5] World Bank, 1.47 Billion People Face Flood Risk Worldwide, November, 2020
[6] Willis Towers Watson, New Satellite Data Reveals Increasing Proportion of Population Exposed to Floods, August, 2021

 

Stage image: Cologne and its surroundings were deluged in July 2021 when a month’s worth of rain fell in 24 hours over parts of western Germany. Photo: Adobe Stock

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