CO2-Entnahme und -Speicherung: Über eine Branche, die 30 Jahre gebraucht hat, um über Nacht zu entstehen

Expert risk article | August 2023
Ob wir Technologien zur Abscheidung von Kohlendioxid im größeren Maßstab einsetzen, könnte Einfluss darauf nehmen, ob die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten sind. Allianz Commercial ist weltweit auch als Versicherer von Karbonspeichertechnologien aktiv. Zwei Projekte, zeigen das Potenzial dieser Technologie, die neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien einen wichtigen Beitrag hin zu einer Netto-Null-Wirtschaft darstellt.

Im Vordergrund wurden fünf Spaten in eine kahle und unfruchtbare Ebene gerammt. In der Ferne, eingerahmt in der Mitte des Bildes, sind zwei Bagger zu sehen. Sie unterstreichen: Hier geht es um einen Spatenstich.

Die Aufnahme erschien im Mai 2023 in einem Artikel in „The Economist“. Aufgenommen in Notrees, einem abgelegenen Ort in einer staubigen Ecke Texas, der seinem Namen alle Ehre macht: Hier gibt es „Notrees“ – keine Bäume. In der Nähe des Orts entsteht Stratos, die weltweit größte, kommerzielle Anlage für „Carbon Capture and Storage“ (CCS), also für die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid.

Auf Basis einer Technologie des kanadischen Start-ups Carbon Engineering, das unter anderem von Bill Gates unterstützt wird, soll Stratos Kohlendioxid aus der Luft absaugen, es konzentrieren, um es dann in Gesteinsformationen tief unter der Erde zu verpressen und dort zu speichern. Wenn die Anlage 2025 voll einsatzbereit ist, sollen jährlich bis zu 500.000 Tonnen CO2 entnommen und dauerhaft gebunden werden.

Eigentümer von Stratos ist 1PointFive, eine Tochtergesellschaft von Occidental. 1PointFive verkauft Gutschriften an Unternehmen, denen es technisch oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, ihren Kohlendioxidausstoß zu vermindern; was sich dann negativ in deren Kohlendioxidbilanz niederschlagen würde. Neben der Sequestrierung kann der abgeschiedene Kohlenstoff in Kunststoffen, Beton, synthetischen Kraftstoffen oder Biokraftstoffen verwendet werden, Kohlensäure für Getränke liefern und das Pflanzenwachstum in Gewächshäusern fördern. 

Technologien zur Abscheidung von Kohlendioxid (Carbon Dioxide Removal, CDR) werden seit langem als eine Maßnahme zur Bekämpfung des Klimawandels angesehen. Allerdings blieb das Potenzial weitgehend Theorie. Bei zwei Projekten in Sleipner und Snohvit vor der norwegischen Küste werden seit 27 Jahren beziehungsweise 15 Jahren Millionen von Tonnen CO2 aufgefangen und sicher gelagert. Der allgemeine Einsatz der Technologie – der Direct Air Capture (DAC), der Entnahme von CO2 direkt aus der Umgebungsluft – kam jedoch nur langsam in Gang.

Das hat sich geändert, da die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen immer deutlicher wurde. So nahm im Jahr 2021 Orca, eine groß angelegte DAC- und Speicheranlage in Hellisheidi, Island, den Betrieb auf. Orca war die erste einer neuen Generation von Anlagen, die auf kostengünstigeren Technologien basieren. Obwohl sie klein ist – Orca scheidet derzeit nur etwa 4.000 Tonnen CO2 pro Jahr [1] ab – bewies die isländische Anlage ihr Potenzial. Seitdem hat sich die Anzahl geplanter CDR-Projekte rapide erhöht.

„Wir dürfen uns nichts vormachen – die Abscheidung von Kohlendioxid allein wird unseren Planeten nicht retten. Es ist nach wie vor effektiver, CO2 von vornherein einzusparen oder gar nicht erst zu produzieren, als zu versuchen, es der Atmosphäre wieder zu entziehen“, sagt Steffen Halscheidt, Global Practice Group Leader, Oil & Gas bei Allianz Commercial. „Zugleich lässt sich das in unserer jetzigen Welt, in der wir auf Stahl und Beton angewiesen sind, Menschen fliegen und heizen, nicht immer einfach umsetzen. Es ist unrealistisch, anzunehmen, dass industrielle Prozesse in absehbarer Zeit gänzlich CO2-neutral stattfinden. Und in dieser Hinsicht ist die Kohlendioxidreduzierung von entscheidender Bedeutung, wenn wir den Klimawandel in den Griff bekommen wollen.“

Die Messlatte, an die wir uns halten sollten, ist unser „Kohlenstoffbudget“: Dieses bezieht sich auf die maximale CO2-Menge, die wir als Weltgemeinschaft noch emittieren dürfen, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Bei einer Erwärmung von über 1,5 Grad wird im Allgemeinen erwartet, dass die natürlichen Systeme gefährliche Wendepunkte überschreiten.

Nach einer Schätzung im jüngsten Sachstandbericht (Sixth Assessment Report) des von den Vereinten Nationen unterstützten zwischenstaatlichen „Weltklimarats“ IPCC darf die Welt ab dem 1. Januar 2020 nur noch 300 Gigatonnen (Gt) emittieren [2], um die Erwärmung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf 1,5 Grad zu begrenzen. Da wir derzeit jährlich etwa 40 Gigatonnen CO2 ausstoßen, könnte das verbleibende Budget bis etwa 2027 verbraucht sein.

Im Sachstandsbericht stellte der IPCC fest, dass die Abscheidung und Speicherung von CO2 zwar teuer ist, aber dazu beitragen könnte, den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen. Die Technologie könnte Sektoren mit einer hohen Emissionslast bei der Dekarbonisierung etwas Luft verschaffen. So wundert es nicht, dass Kohlenstoffabscheidung vom globalen Maklerhaus Aon als eine der zehn wichtigsten transformativen Technologien [3] eingestuft wurde.

„Die Emissionen zu verringern ist von grundlegender Bedeutung und zugleich brauchen wir die Kohlenstoffentnahme, um Netto-Null-Emissionen und dann Netto-Negativ-Emissionen zu erreichen“, erklärt Halscheidt.

Neben Stratos, bei dem Allianz Commercial das Versicherungsprogramm für die Bauphase mitführt, ist das Unternehmen an der Versicherung von Northern Lights beteiligt, dem ersten Carbon Capture and Storage-Projekt in Norwegen. Nach Angaben des Global CCS Institute, einer Denkfabrik, die sich für die Abscheidung von Kohlendioxid einsetzt, sind dies zwei von rund 200 Projekten, die weltweit in Betrieb oder in der Entwicklung sind.

Northern Lights ist ein Joint Venture von Shell, Total Energies und Equinor, das von der norwegischen Regierung unterstützt wird. Es ist das erste grenzübergreifende Projekt, das europäischen Industrieunternehmen eine Lösung für die „sichere und dauerhafte“ Speicherung ihrer CO2-Emissionen anbieten möchte.

Während Stratos der Luft CO2 entnimmt, scheidet Northern Lights es aus industriellen Prozessen ab. Der Plan ist es, verflüssigtes CO2 von europäischen Industrieunternehmen etwa 2.600 Meter unter dem Meeresboden vor Øygarden in der Nordsee zu lagern. Allianz Commercial ist der führende Versicherer für den Bau des Terminals zur Aufnahme von Kohlendioxid und die Offshore-Speicherlösung.

Zu den bereits vereinbarten Verträgen gehört der mit Yara Sluiskil [4], einem niederländischen Hersteller von Stickstoffdüngern und Industriechemikalien. Ab 2025 sollen 800.000 Tonnen CO2 pro Jahr allein aus den Niederlanden verschifft werden. Laut Northern Lights könnte die jährliche Kapazität bis 2026 fünf Millionen Tonnen betragen.

Northern Lights ist das erste grenzübergreifende Projekt, das europäischen Industrieunternehmen eine Lösung für die „sichere und dauerhafte“ Speicherung ihrer CO2-Emissionen anbieten möchte. Photo: Adam Reed
  • Der industrielle Emittent fängt die Emissionen vor Ort ab, bereitet das CO2 entsprechend den Qualitätsanforderungen auf, verflüssigt es und transportiert es zu einer Anlegestelle.
  • Northern Lights sammelt das CO2 mit neu konzipierten Schiffen, die auf den Standards für den Transport von Flüssiggas basieren und bringt es nach Norwegen.
  • Das CO2-Empfangsterminal befindet sich in Øygarden an der Westküste Norwegens. Der Bau begann im Januar 2021. Hier gibt es einen Zwischenpufferspeicher an Land und eine 100 Kilometer lange Pipeline zum Offshore-Standort, wo das CO2 in ein Salzreservoir 2.600 Meter unter dem Meeresboden zur dauerhaften Speicherung eingeleitet wird.
  • Anstelle einer Offshore-Plattform wird die Injektionsinfrastruktur auf dem Meeresboden, 300 Meter unter dem Meeresspiegel, installiert.
  • Die permanente CO2-Speicherung wird im Rahmen der vom Ministerium für Erdöl und Energie erteilten Lizenz EL001 sowohl nach den EU- als auch nach den norwegischen CO2-Speicherungsvorschriften geregelt und überwacht.

Die Hochkonjunktur bei der CO2-Entnahme kommt nicht von ungefähr: Laut Schätzungen des IPCC muss die Menschheit bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 1.000 Gigatonnen CO2 aus der Atmosphäre holen [5], um die Zivilisation in ihrer jetzigen Form zu erhalten.

„Um solche Mengen zu erreichen, müsste die Kohlendioxidabscheidung im nächsten Jahrzehnt massiv ausgebaut werden“, so Halscheidt. „Hierbei sollten sich Politik und private Investoren zusammentun, um das Potenzial von CCS zu steigern und dazu beizutragen, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken. Nur so können wir die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels verhindern.“ Neben dem Versicherungsschutz bietet die Allianz auch Finanzierungen für solche Projekte an.

Die noch junge Branche wächst schnell. Im Jahr 2019 lag die Kapazität von CCS-Anlagen weltweit bei 85 Millionen Tonnen pro Jahr. Im Jahr 2022 waren es bereits mehr als 240 Millionen Tonnen und die Zahl der geplanten Projekte wächst weltweit (siehe Kasten).

Eine wichtige Rolle für die Branche spielt hier die Unterstützung durch Regierungen und staatliche Institutionen. So stellte die US-Regierung unter Präsident Biden kürzlich Mittel in Höhe von 251 Milliarden Dollar [6] für Klimaschutzmaßnahmen in Verbindung mit Kohlenstoffabscheidung bereit. Die Antwort der EU, das NextGenerationEU-Programm, wird die Kohlenstoffabscheidung aller Wahrscheinlichkeit ebenfalls fördern.

„Die Branche entwickelt sich rasch“, kommentiert Halscheidt. „Die zugrundeliegende Technologie gibt es bereits seit den 1970er Jahren [7], aber jetzt kommen Faktoren zusammen, die dieses Wachstum beschleunigen. Das Thema wird zudem auch von jungen, engagierten Menschen vorangetrieben, die erkannt haben, was auf unseren Planeten zukommt und entschlossen sind, dies zu verändern.“

„Wie bei jeder aufstrebenden Industrie gibt es neben den Vorteilen, die CCS durch die Verringerung von CO2 in der Atmosphäre bringen könnte, eine Reihe von Herausforderungen, die im Zuge der weiteren Entwicklung der Branche bewältigt werden müssen“, ergänzt Funké Adeosun, Global Transition Solutions Director bei Allianz Commercial. Zu den Hürden gehören nach Aussagen der Expertin etwa die hohen Kosten für den Ausbau der Anlagen und die Umsetzung sowie die Ungewissheit, ob Länder und Standorte langfristig in der Lage sind, Kohlenstoff zu binden, ohne dass es zu erheblichen Leckagen kommt. Außerdem birgt die Technologie das Risiko, durch die unterirdische Einspeisung von CO2 seismische Aktivitäten zu verursachen.

Hinzu kommt das Risiko eines Unfalls während des Transports. Dieses ist zwar gering, dennoch könnte es zu Leckagen kommen. Zu guter Letzt besteht die Befürchtung, dass einige Unternehmen mit ihrem Enthusiasmus für die Kohlendioxidabscheidung in erster Linie ihren Ruf bei zunehmend klimabewussten Kunden verbessern wollen, gleichzeitig aber wenig unternehmen, um die Entstehung von Emissionen zu senken.

„Aus Sicht der Risikoberatung und des Underwritings sind die potenziellen Risiken bekannt, auch wenn es sich um eine junge Branche handelt“, erklärt Nicholas Pilz, Senior Energy and Construction Risk Consultant bei Allianz Commercial in Nordamerika.

Sollte sich Allianz Commercial etwa an einem Bauversicherungsprojekt beteiligen, würde dies typischerweise das Risiko von Schäden während der Installation schwerer Anlagen und Ausrüstungen beinhalten, die darüber hinaus zu Verzögerungen des Projekts führen können. Dann gibt es noch das Risiko von Schwächen in der Struktur oder Einstürzen (beispielsweise Zusammenbruch einer Gebäudestruktur, was während der Montage aus einer Reihe von Gründen eintreten kann) sowie das Risiko eines Unfalls bei der Anlieferung der Ausrüstung: So werden spezielle Verarbeitungs-„Skids“, also Anlagen, die auf einem Rahmen montiert sind, zu den Projektstandorten transportiert; sie könnten bei der Anlieferung und beim Entladen Schaden nehmen. Nicht zu vergessen ist die Prüfung und Inbetriebnahme verschiedener Systeme, einschließlich Gasfeuerungskesseln, im Hinblick auf Brand- und Explosionsrisiken.

Nicholas Pilz, der sich intensiv mit dem Stratos-Projekt befasst hat, erklärt, dass die in der DAC-Anlage eingesetzte Technologie eine Kombination aus bewährten industriellen Verfahren und Ausrüstungen ist. Die Verfahren und Mittel setzen andere Branchen wie die Zellstoff- und Papierindustrie bereits in großem Maßstab ein, was die mit der Ausweitung der Technologie verbundenen Risiken mindert. Eine Pilotanlage, wenn auch in kleinerem Maßstab, ist bereits seit Jahren in Betrieb. „Viele Erkenntnisse aus der Pilotanlage sind in die Konzeption dieses Projekts eingeflossen“, sagt Pilz. „Für mich ist das Spannende, dass sie ein Projekt entwickeln, das sich skalieren und wiederholen lässt – mit dem Ergebnis, dass dieses und andere Projekte schnell anlaufen können.“

„Für uns als Allianz Commercial ist sehr wichtig und wertvoll, eine langfristige Partnerschaft mit Unternehmen aufzubauen, die in solche Projekte involviert sind“, erklärt Halscheidt. „Schließlich tragen sie dazu bei, dass wir den Schritt von einer Welt der fossilen Brennstoffe hin zu einer Welt schaffen, in der fossile Brennstoffe nur noch in sehr geringem Umfang eingesetzt und deren Emissionen dann mit CCS kompensiert werden können.“

  • Im September 2022 gab es 30 kommerziell betriebene CCS-Anlagen, elf Anlagen im Bau und 153 in verschiedenen Entwicklungsstadien.
  • Die Abscheidungskapazität von CCS-Projekten in der Projektpipeline beträgt 244 Millionen Tonnen pro Jahr (Mtpa) – ein Anstieg um 44 Prozent in den letzten zwölf Monaten (entspricht 61 neuen Anlagen).
  • Die USA haben wichtige politische Maßnahmen umgesetzt und Gesetze eingeführt, vor allem den Inflation Reduction Act (IRA), der Anreize für CCS schafft. Frühe Analysen ergaben, dass der IRA den Einsatz von CCS bis 2030 um das 13-fache und damit weit über 110 Mtpa, im Vergleich zur derzeitigen Politik steigern könnte.
  • Kanada strebt CCS als Teil einer umfassenderen Dekarbonisierung an. Der Haushalt 2022 sieht Steuergutschriften vor und eine CCS-Strategie wird derzeit entwickelt.
  • In Europa hat die dänische Regierung über einen Zeitraum von zehn Jahren fünf Milliarden Euro für CCS bereitgestellt und die niederländische Regierung hat das SDE++-Programm seit seinem Start auf 13 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Mehrere Länder in Europa, darunter Polen, Bulgarien und Finnland, steigen dank des Förderprogramms des EU-Innovationsfonds zum ersten Mal in den CCS-Markt ein.
  • Im asiatisch-pazifischen Raum hat Thailand sein erstes CCS-Projekt angekündigt, und in China wurde das erste Millionen-Tonnen-Projekt in Betrieb genommen. Malaysia kündigte den Start eines CCS-Projekts vor der Küste von Sarawak an. In Australien wurden neue Projekte in Victoria und Westaustralien angekündigt, und im Northern Territory wurden Fortschritte erzielt.
  • In der gesamten MENA-Region wird CCS weiterhin durch Netto-Null-Verpflichtungen, das Potenzial, einen bedeutenden Anteil am kohlenstoffarmen Wasserstoffmarkt zu übernehmen, und verschiedene Pläne zur kohlenstoffarmen Industrialisierung vorangetrieben.
Quelle:  Global CCS Institute [8]
[1] The Guardian, World’s biggest machine capturing carbon from air turned on in Iceland, September 9, 2021
[2] IPE, Günther Thallinger: 300 – the budget the world dare not spend
[3] Aon, Transformative Trends, An Opportunity to Create New (Re)Insurance Markets
[4] Northern Lights, Major milestone for decarbonizing Europe, August 29, 2022
[5] IPCC, Special Report: Global Warming of 1.5
°C, Summary for Policymakers
[6] AP, Biden administration invests in carbon capture, upping pressure on industry to show results, May 18, 2023
[7] Ieaghg, A Brief History of CCS and Current Status
[8] Global CCS Institute, Carbon Capture and Storage Experiencing Record Growth as Countries Strive to Meet Global Climate Goals, October 17, 2022

Picture: AdobeStock