Ein Leben auf der Meereswelle

Interview | Juni 2022
Am 25. Juni ist internationale Tag des Seefahrers, an dem der Beitrag der Schifffahrtsindustrie zur Weltwirtschaft gewürdigt wird. Aus diesem Anlass sprechen wir mit zwei Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) Marine Risk Consultants, Rahul Khanna und Nitin Chopra. Beide waren früher als Kapitäne unterwegs und berichten, wie sich der Beruf und die Arbeitsbedingungen von Seeleuten verändert haben und welche Herausforderungen gegenwärtig zu bestehen sind. Menschliches Versagen ist eine der Hauptursachen für Schaden in der Schifffahrtsversicherung. Daher sind das Wohlergehen der Besatzung und die Sicherheit der Seeleute für die Schifffahrtsbranche und ihre Versicherer besonders wichtig.
Rahul Khanna (RK): Das Leben auf See ist hart. Es gleicht eher der Arbeit in einem komplexen industriellen Umfeld als einem normalen Arbeitsplatz, mit Gesundheits- und Sicherheitsaspekten, die mit Fabrikarbeit oder sogar Bergbau vergleichbar sind. Aber es gibt auch Probleme, die nur für Seeleute gelten, z. B. die Abwesenheit von Freunden und Familie. Die Besatzung kann zwischen einem Monat und einem Jahr an Bord eines Schiffes sein und in einer risikoreichen Umgebung arbeiten, ohne die Unterstützung ihrer Angehörigen. Ich erinnere mich noch, dass ich in der Ausbildung mit einem mageren Lohn 10 Dollar pro Minute zahlen musste, um über Satellit nach Hause zu telefonieren. Und die Tonqualität war schlecht – es war Glückssache, ob man eine gute Verbindung hatte oder nicht.
Nitin Chopra (NC): Wir sprechen vom „Leben auf See“, aber Seeleute kehren am Ende des Tages nicht in ihr normales Leben zurück. Man braucht einen starken Willen, um in der Seefahrt Karriere zu machen. Ein Problem, das ich immer wieder als Herausforderung empfand, war die begrenzte Zahl der Arbeitskräfte an Bord und die Notwendigkeit, die vorgeschriebenen Ruhezeiten für die Besatzung einzuhalten und gleichzeitig die Betriebssicherheit des Schiffes zu gewährleisten.
RK: Die potenzielle „Kriminalisierung" von Seeleuten wurde in der späteren Phase meiner Laufbahn zu einer Herausforderung. Schiffe sind komplexe Gebilde, die alle Arten von Gütern befördern, und ein unbedachter Fehler kann schwerwiegende Folgen haben. Verschärfte Strafen bedeuten, dass Seeleute Gefahr laufen, die volle Härte des Gesetzes persönlich zu spüren. Als Kapitän verbrachte ich einmal ein paar bange Tage im Hafen von Los Angeles, weil ein Maschinenausfall ein kleines Ölleck im Hafen verursacht hatte. Ich wurde von zahlreichen Behörden befragt, bevor man entschied, dass außer einer Reparatur keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden mussten. Aber ich kann mich nicht erinnern, in diesen drei Tagen viel geschlafen zu haben!
Capt. Rahul Khanna
Kapitän Rahul Khanna

Bevor er 2011 zu AGCS kam, war Rahul Khanna 14 Jahre lang als Kapitän auf Öltankern, Massengutfrachtern und OBO (Erz-Massengut-Öl)-Frachtern zur See unterwegs. Vier Jahre lang war er auch für Unfalluntersuchungen, Gutachten und Risikobewertungen von großen Offshore-Öl- und Gasprojekten verantwortlich.

Heute ist er Global Head of Marine Risk Consulting bei AGCS mit Sitz in London.

NC: Der technologische Fortschritt und die zunehmende Automatisierung in den Frachtterminals haben die Abfertigungszeiten für Schiffe im Vergleich zu meiner Zeit verkürzt. Kürzere Aufenthalte im Hafen setzen die Besatzung unter Druck. Landurlaub war früher eine große Attraktion für Seeleute, aber er wurde im Laufe der Jahre aufgrund verschärfter Einwanderungsgesetze oder Sicherheitsbedenken eingeschränkt.

Die Digitalisierung hat die Sicherheit und Effizienz verbessert, aber die neuen Technologien erfordern eine schnellere Weiterbildung der Seeleute als bisher. Schiffe operieren heute in einem verschärften regulatorischen Umfeld und in einer zunehmend instabilen geopolitischen Landschaft.

RK: Seeleute waren schon immer Kollateralschäden in Konflikten, und das hat sich leider auch in der Ukraine-Krise nicht geändert. Eine Sache, die sich geändert hat, ist die Art und Weise, wie Piraten operieren. Im Golf von Aden bestand das Piratenmodell darin, das Schiff und die Seeleute zu entführen und Lösegeld zu verlangen. In anderen Teilen der Welt geht es inzwischen eher um bewaffnete Raubüberfälle, Plünderungen und das Abzapfen von Fracht. Wir sind besorgt, dass dieses letztere Modell immer häufiger und gewalttätiger wird.

Positiv ist, dass die Einführung von Internet und Breitband auf Schiffen es den Seeleuten erleichtert, mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Das ist eine große Veränderung gegenüber der Zeit, als ich auf See war. Einmal saß ich wegen Staus und schlechten Wetters vor einem Hafen in Argentinien fest. Ich war verlobt und hatte keine Möglichkeit, meine Verlobte zu kontaktieren. Schließlich ging ich auf einem Lastkahn an Land und konnte ihr versichern, dass ich keine kalten Füße bekommen hatte! Es dauerte 15 Tage, bis ich endlich in Delhi war, aber ich kam vier Tage vor der Hochzeit nach Hause und wir sind seit 25 Jahren verheiratet.

Nitin Chopra verfügt über mehr als 22 Jahre Erfahrung in der Schifffahrtsbranche, davon 18 Jahre auf Massengutfrachtern, Tankern und sehr großen Rohöltankern (VLCCs) sowie vier Jahre als Sicherheits- und Qualitätsbeauftragter für eine Flotte von Öl- und Chemietankern.

Heute ist er Senior Marine Risk Consultant bei AGCS mit Sitz in Singapur.

Kapitän Nitin Chopra
NC: Das erinnert mich an die Worte von Efthymios Mitropoulos, dem ehemaligen Generalsekretär der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO), der sagte: „Ohne die Schifffahrt würde die Hälfte der Welt erfrieren und die andere Hälfte verhungern.“ Die Schifffahrt befördert 90 % des Welthandels, aber der Personalmangel seit der Pandemie gibt Anlass zur Sorge. Ein Bericht der Internationalen Schifffahrtskammer und des Branchenverbands BIMCO prognostiziert einen Bedarf von 89 510 zusätzlichen Offizieren bis 2026, während im Jahr 2021 dummy 26 240 zertifizierte Offiziere fehlten. Die IMO, die Generalversammlung der Vereinten Nationen und die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) haben Beschlüsse verabschiedet, in denen sie die Regierungen auffordern, Seeleute als Schlüsselarbeitskräfte zu bezeichnen. dummy 65 IMO-Mitgliedstaaten haben dies bereits getan. dummy Mit der Neptun-Erklärung wird versucht, die Krise des Besatzungswechsels zu bewältigen, während das dummy Seearbeitsüberkommen Mindestrechte für Seeleute in Bezug auf Arbeit und Lebensbedingungen festlegt. Es wird also schon einiges getan, aber wir müssen noch mehr tun. 

RK: Was während der Covid-Krise geschah, als die Besatzungen monatelang an Bord der Schiffe festsaßen, hat die Wahrnehmung der Schifffahrt nachhaltig beeinträchtigt. Wie Nitin sagt, drängen einige Initiativen auf einen Wandel, aber die Tatsache, dass sich die Seeleute im Vergleich zu denen an Land oft wie Arbeitskräfte zweiter Wahl fühlen, muss von den Reedern und den Interessengruppen angegangen werden.

Die Besatzungsquartiere sind in dem Maße geschrumpft, wie die Schiffseigner versucht haben, den Frachtraum zu maximieren. Daher muss der vorhandene Raum höheren Standards entsprechen und der physischen und psychischen Gesundheit der Seeleute Rechnung tragen. Wohlbefinden und umgekehrt psychischer Stress stehen in direktem Zusammenhang mit der Sicherheit an Bord von Schiffen, da menschliches Versagen eine der Hauptursachen für Unfälle ist. Ein angemessener Landgang ist ebenfalls wichtig für die Regeneration der Seeleute – die Welt zu sehen ist ein Höhepunkt des Lebens auf See.

Wir müssen die jungen Männer und Frauen, die sich für die Seefahrt interessieren, auf die positiven Aspekte hinweisen: Es ist eine steile Lernkurve, auf der man sich großartige Fähigkeiten für eine spätere Karriere aneignen kann, die Bezahlung ist ordentlich und der Beruf führt einen um die ganze Welt.

NC: Meine Zeit auf See war lohnend und bereichernd. Der Beruf ist unübertroffen, wenn es um die Entwicklung der Persönlichkeit geht. Der Umgang mit Unwägbarkeiten und Krisen fördert die persönliche Entwickung – Resilienz, emotionale Intelligenz und Selbstmanagement sind wesentliche Eigenschaften für eine effektive Führungskraft. Angesichts des Nachholbedarfs an Waren nach der Pandemie verzeichnen die Schifffahrtsunternehmen Rekordgewinne. Ist es da nicht angemessen, von ihnen zu erwarten, dass sie mehr Ressourcen für das Wohlergehen ihrer Besatzungen bereitstellen?

Ich erwarte bessere Zeiten für diejenigen, die sich entscheiden, ihre Karriere an Bord zu beginnen oder fortzusetzen und damit die nächste Generation von Seeleuten für das Abenteuer See zu begeistern.

Der Tag des Seefahrers findet am 25. Juni statt. Weitere Informationen finden Sie  hier oder verwenden Sie den Hashtag #SeafarerJourney in den sozialen Medien.
Titelbild: Adobe Stock
What are the latest loss trends and risk challenges for the maritime sector?

Join us for a one-hour webinar hosted by AGCS experts, examining trends and developments in shipping losses, risk challenges and safety – and what they all mean for the insurance market, with live Q&A.

Tuesday, July 5, 2022

14:00 – 15:00 BST | 15:00 – 16:00 CEST | 09:00 – 10:00 EDT

Event password: AGCSwebinar2022
Keep up to date on all news and insights from Allianz Commercial